Ralf Wagner
[22.7. 2004]

Ignorantia non est argumentum [ Übersetzung] oder wie ein Gewerkschaftsökonom den Neoliberalismus "widerlegt"
zu "Opfer des Reformfiebers" von Dierk Hirschel in der
Tageszeitung (taz) vom 8.7. 2004
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Die gute Nachricht ist: Der DGB hat einen Chefökonomen – eine gute ökonomische Analyse könnte immerhin zu einer realistischen Strategie beitragen. Die schlechte Nachricht ist: Es läuft genau umgekehrt. Herr Hierschel hat eine Ideologie und mit der versucht er, sich die Welt zurechtzuzimmern.

Beginnen wir mit der „Entkräftung“ der These I (die Überregulierung des deutschen Arbeitsmarktes ist ursächlich für die hohe Arbeitslosigkeit). Den Umfang des deutschen Arbeitsrechtes kann man mittlerweile besser in Kilo als nach der Anzahl der Gesetze bestimmen. Auf die Frage, ob ein Unternehmen nicht eher einstellt, wenn es in schlechten Zeiten auch eher entlassen kann, ob es für ein Unternehmen nicht angeratener ist, zu schließen und sich wieder neu zu gründen als bei einem notwendigen Personalabbau mit dem Ergebnis der Sozialauswahl zu leben, geht Herr Hirschel erst gar nicht ein. Statt dessen verweist er auf die Beschäftigungserfolge in den Ländern, die er für Bastionen des Regulierungseifers hält. Dabei sind ihm wohl gut 20 Jahre Entwicklung verborgen geblieben. In Dänemark zum Beispiel kann man den Kündigungsschutz in Stunden messen. Dort ebenso wie in Schweden gibt es mittlerweile eine Arbeitspflicht nach längerer Arbeitslosigkeit – ähnlich wie bei Hartz IV. Erfolgreich beim Abbau der Arbeitslosigkeit sind bei der Länder allerdings in der Tat.

Bei These II (die Arbeitskosten in Deutschland sind zu hoch) wird die Statistik zum Gegner erklärt. Transparenz war schon immer der Feind von Ideologen. Wenn ein deutscher Industriearbeiter im Durchschnitt 28,82 Euro kostet und einer in Polen 5,45 Euro, dann ist das so. Auch die Umrechnung über australische Dollar oder die Bewertung mit mongolischen Kaufkraftstandards wird daran nichts ändern. Es passt auch nicht zusammen, auf der einen Seite zu erklären, dieser Unterschied sei gerechtfertig oder ließe sich gar statistisch beseitigen und auf der anderen Seite über Auslagerungsgefahren in Billiglohnländer zu jammern. Von beiden Aussagen kann nur eine stimmen. Statt dessen sollte sich ein Volkswirt im Dienste der Gewerkschaften fragen, wieviel von den rund 29 Euro ein Arbeitnehmer wirklich bekommt. Das ist erschreckend wenig und Schuld daran sind vor allem die einkommensabhängig erhobenen Sozialbeiträge. Aber damit stünde die nächste Konfrontation mit einer „heiligen Kuh“ der Gewerkschaften an.

Wer aber bei These II versagt, sollte sich an These III gar nicht erst versuchen. Keine Kennzahl wird von den Gewerkschaftsoberen so gern gebraucht wie die der Lohnstückkosten – im festen Vertrauen darauf, dass eigentlich kaum jemand weiß, was das eigentlich ist. Dabei ist die Sache ganz einfach. Sie gibt das Verhältnis von Arbeitskosten pro Arbeitnehmer zu Output pro Arbeitnehmer (Arbeitsproduktivität) an, ausdividiert eben Arbeitskosten pro Output-Einheit, Lohnstückkosten eben. Und in der Tat haben die Güter, die am Welthandel teilnehmen durchaus vergleichbare Lohnstückkosten. Sie werden in Deutschland absolut konkurrenzfähig hergestellt. Um es simpel zu machen: hohe deutsche Produktivität – beispielsweise fünf mal so hoch wie in Polen – rechtfertigt fünfmal so hohe Arbeitskosten. 5:5 = 1:1. Doch schon im Innenverhältnis für Deutschland wird das Dilemma sichtbar. Wie steht es um die Branchen und Tätigkeiten, die zwar durch das Preisniveau, Flächentarifverträge oder aber nur durch das Beispiel der Exportbranchen Arbeitskosten von 5 verursachen, aber nur eine Produktivität von 3 oder gar 2 haben? Diese Jobs gibt es nicht mehr. Die davon Betroffenen bilden heute den Kern der Langzeitarbeitslosen und Sozialhilfeempfänger – Opfer einer unsinnigen Belastung des Faktors Arbeit – aber auch gewerkschaftlicher Ignoranz. Keine Konjunktur oder Bildungsinitiative wird dieses Problem lösen, einzig eine Befreiung von den Lohnzusatzkosten oder eine Lohnsubvention (z.B. durch eine Negativsteuer) wird hier deutlich mehr Beschäftigung schaffen – natürlich auch das Tabuthemen für Gewerkschaftsbosse. Oder um es politisch unkorrekt ganz deutlich zu sagen: ein langzeitarbeitsloser wenig qualifizierter Arbeitnehmer läßt sich nicht zur IT- Spitzenkraft qualifizieren. Es müssen die Jobs wenig qualifizierte zurückkommen und die Arbeit dort darf nicht sofort wieder mit Steuern und Sozialabgaben belastet werden.

Ein Umdenken ist mehr als überfällig, denn spätestens mit einem größeren Europäischen Binnenmarkt ist das Problem der Lohnstückkosten nicht nur eines für gering Qualifizierte. Was passiert denn, wenn bei der o.g. Ausgangslage 5:5 (D) = 1:1 (PL) ein komplettes deutsches Unternehmen z.B. der Automobilbrache nach Polen verlagert wird? Dann stehen 5:5 (D) zu 1:5 (PL). Und dieser Wettbewerbsvorteil kann weder durch Produktivitätsseigerung in Deutschland aufgeholt werden noch durch Produktinnovationen. Dass eine hohe Produktivität einzig der Erfolg des Arbeitnehmers und nicht seiner Einbettung in ein hocheffizientes System und der Kapitalausstattung ist, gehört ebenfalls zu den gleichwohl gut kultivierten wie falschen Legenden der Gewerkschaftsfunktionäre.

Eine sinnvolle Auslagerung von Teilen der Wertschöpfung, die sich ja schon vollzieht, sichert die restlichen Jobs in Deutschland. Neue Beschäftigung hingegen wird sie kaum bringen. Um die Erkenntnis, dass Arbeitskosten sowie Arbeitsmarktregulierung und Beschäftigung etwas miteinander zu tun haben, werden auch die Gewerkschaften nicht herumkommen. Je früher, desto besser, denn in einem solchen Umwälzungsprozess wie jetzt sind Gewerkschaften eigentlich notwendiger denn je.

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