Ralf Wagner
[26.9.2005]
Atlantis-Effekt
zu Einfacher, als es scheint in DIE ZEIT vom 39/05 von Bernd Ulrich
Vielleicht macht es sich Bernd
Ulrich doch ein wenig zu einfach. Auf der einen Seite bescheinigt
er dem Souverän eine geradezu unfehlbare kollektive Klugheit und
auf der anderen Seite konstatiert er, daß mit diesem Genie zu
wenig sorgsam, ohne Gespür und mit zu viel nüchterner
Konfrontation mit dem Notwendigen umgegangen worden sei. Eines
von beidem kann nur stimmen. Nein, auch die Wähler müssen sich
Fragen nach ihrem Zustand gefallen lassen. Kein Volk sollte das
besser wissen als wir.
Da hat Gerhard Schröder Neuwahlen erzwungen mit dem Argument, er
fände in seiner Partei und in seiner Fraktion kein Vertrauen
mehr für die Weiterführung von Reformen, was immer er auch
darunter verstehen mochte. Kaum war er im Wahlkampf, rief er dazu
auf, eben diese Partei zu wählen um ihn zu wählen. Muß
das keinen nachdenklich machen?
Von neuen Reformen war plötzlich keine Rede mehr. Ganz im
Gegenteil. Und je mehr sich der Kanzler als Garant der
Verhinderung weiterer Veränderungen präsentieren konnte, desto
größer wurde die Wählerwanderung hin zur SPD. Spätestens mit
dem Diskussion um die Flat Tax und die Kopfpauschale war dann
auch dem souveränsten Souverän klar: Hoppla, Privilegien
im Steuer- und Sozialsystem, gegen welche sich jahrelang so schön
wettern ließ, die habe ich ja selber! Und sozial gerecht ist
doch schließlich das, was mir nützt!. Das setzt sich
nahtlos links von der SPD fort. Wenn sogenannte
Besserverdiener für weniger Steuern stimmen, sind sie angeblich
nur eines: eigennützig. Wenn die Bezieher von Transfereinkommen,
welche mittlerweile auf eine Mehrheit unter den Wählern
zusteuern, für immer mehr Umverteilung stimmen, sind sie dann für
mehr soziale Gerechtigkeit? Oder ist dieser Teil des Souveräns
nicht etwa auch ein wenig eigennützig?
Auch der ausgeprägte Wählerwunsch nach einer Großen Koalition
ist daher wohl nicht anders zu interpretieren ist als der nach
Reformen ohne persönliche Konsequenzen oder: Wasch mir den Pelz,
aber mach mich nicht naß. Schnittmengen beispielsweise zwischen
Andrea Nahles und Friedrich Merz zu finden wäre ein Fall für
die Elektronenmikroskopie. Und Kompromisse heißen Seehofer und
Schmidt.
Behauptungen, in Sachen notwendiger Veränderungen seien in
diesem Land die Bürger weiter als die Politik und es gäbe
weniger ein Erkenntnis- als ein Umsetzungsproblem sind
schlichtweg falsch. Keiner wußte das besser als Gerhard Schröder.
Daher werden wohl weitere vier Jahre vergehen, welche uns viele
Neujustierungen aber keine Änderungen bescheren
werden - vor allem weil der Souverän es so will. Ein Atlantis-
Effekt, wie ein Kollege aus England treffend meinte.